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Bürger, Freunde, Genossen!

Was sind papiernes und tönernes Menschenrecht und die Garantie auf Unverletzlichkeit und Würde des Menschen tatsächlich wert angesichts grassierender Gewalt, in Politik, Medien und zunehmend auf der Straße? Wie ist das alles zu begreifen, warum geschieht das, woher kommt es? Formiert sich da nicht etwas Bedrohliches, Fürchterliches? Wiederholt sich da etwas aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte, wenn auch in neuem Gewande? Wie ist das mit Zwickau, was ist los mit dem Verfassungsschutz und seinen gelinkten Schnüfflern, mit zugreifenden Polizisten und halbblinder Juristerei, was mit den zu Hexenjägern mutierten Bürgerrechtlern, Kanzlerinnen und Politikern, die an Kriegen und Krisen nicht verzweifeln, dafür aber kühn und mit fundamentalistischer Unnachgiebigkeit und Härte andere Weltsichten und manch individuelle Verfehlung – nicht die eigene - in vergangener Geschichtsperiode verfolgen?

So viele Fragen, so wenig befriedigende Antworten! Natürlich ist es ungemein schwer, das in freiheitlicher Absicht angebotene ideologische Verwirrspiel zu durchschauen. Selbst ein Großteil der hoch erhobenen, alten Konzepten folgenden Politiker weiß kaum, was er da verhandelt. Und schert sich nicht um das Angerichtete. Wie sollen sie’s auch wissen, wo  Macht und Herrschaft kaum mehr in ihren Händen liegt.

Heute vor 67 Jahren sind die Überlebenden des faschistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee aus ihrer entsetzlichen Lage befreit worden. Als Bundespräsident Roman Herzog Anfang 1996 den 27. Januar zum nationalen „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalismus“ erklärte, hielt er es für das Allerwichtigste, „den Jungen den Blick dafür zu schärfen, woran man Rassismus und Totalitarismus in den Anfängen erkennt“, weil es im Kampf gegen diese Grundübel des 20. Jahrhunderts vor allem anderen auf rechtzeitige Gegenwehr ankomme.

Welche Bilanz ist nun zu ziehen? Helfen gute Absichten, fromme Wünsche? Was ist, wenn die Verhältnisse nicht so sind? Wenn die dem kapitalistischen System, der Ausbeutergesellschaft angeborenen Gebrechen stärker sind als alle hoffnungsvollen Gedanken und mit historischen Einsichten untermauerten Entschlüsse? Wie ist möglich, daß der Hochfinanz ihre aberwitzigen Spekulationen nachgesehen und mit Milliarden und Abermilliarden von willigen und eingebundenen Politikern honoriert werden, ohne dass breite Empörung entsteht? Wo ist der massenhafte Zorn der Gerechten geblieben, der dem Spuk Einhalt gebieten würde? Oder sind die Gerechtdenkenden weniger geworden?

Die Lage zu durchschauen und richtig einzuschätzen, ist wahrlich schwierig. Die politische Lethargie, allenthalben zu bemerken, der Verzicht, sein wenn auch schmales Bürgerrecht doch tatkräftig wahrzunehmen, das angesichts der relativen Erfolgslosigkeit entwickelte Desinteresse an gesellschaftlichem Handeln, die vermeintliche Ohnmacht zu vieler Bürger, der globalen Ungerechtigkeit abzuhelfen, haben Gründe. Sie liegen einerseits in der geballten ökonomischen und politischen Macht der herrschenden Schichten und der ausgepowerten, durch Unterhaltung und geförderten Individualismus zerstreuten und vereinzelten Masse der werktätigen Bevölkerung. Andererseits spiegelt sich darin das Bewusstsein der schwerwiegenden internationalen Disproportionen. Sie sind, ohne die gewaltigen Widersprüche im nationalen Rahmen in Abrede stellen zu wollen, von welthistorischem Gewicht. Die in einem komplizierten ökonomisch-politischen Geflecht auf der Sonnenseite stehenden reichen Länder der Welt sind die eigentlichen Nutznießer der zunehmenden globalen Integration der auf der Schattenseite platzierten armen Länder. Die paradiesisch zu nennenden Zustände des materiellen Überflusses, der blendende Reichtum der Angebote haben betörende, auch korrumpierende Wirkung  und entwickeln selbst den Drang, sich den auf Grund fremder Ausbeutung verbilligten Lebensgenuß nicht rauben zu lassen. Wer will schon mit dem Schicksal der Armen und Beladenen tauschen? Und wer denkt an Teilung des Mantels mit dem Frierenden?

Die Konsequenz dieser Entwicklung ist zweierlei. Die wachsenden inneren und äußeren Widersprüche, die zu Brüchigkeit der kapitalistisch fundierten Herrschaft führen, steuern auf autoritäre Machterhaltung zu. Wie gehabt. Auf der anderen Seite lassen die zunehmende Auspowerung und Unterdrückung der werktätigen Massen und zugleich der durch die wachsende Zahl der aus dem Arbeitsprozeß Augestoßenen und in die Armut Getriebenen entstehende soziale Druck sowie die durch die Teilhabe an dem geraubten Mehrwert betriebene Korrumpierung Gesinnungen und Verhaltensweisen entstehen, die zunehmend auf Ellenbogen und Gewalt setzen. Es gibt wieder Feinde und eine explosive Situation heizt sich an. Das Schlimme/Verheerende aber ist, dass diese sich in Feinbildern und Fremdenhaß artikulierende und in Hass, Verfolgung und Mord umschlagende allseitige Gewalttätigkeit wohl kaum durch Aufklärung, mindestens nicht allein zu bannen ist. Sie mag zwar gut und fest in der sogenannten Mitte der Gesellschaft verankert sein – was immer das heißen mag. Ihre Wurzeln aber gehen tiefer. Sie ist gegründet im kapitalistischen Gesellschaftssystem, dessen gegenwärtige Krisis sie reflektiert und deren Auswüchse ursprünglichen Charakter haben. Noch immer gilt das Brechtsche Wort von dem Schoß, der da noch fruchtbar ist.
So liegen vor uns, vor der deutschen Gesellschaft, noch immense Mühen, diesen alten, überlebten Dreck zu überwinden, wenn das Land nicht in einer neuen Katastrophe enden soll. Das Übel muß bei der Wurzel gepackt und ausgerissen werden, d.h. die Ausbeutung, der Raub am Mehrwert muß beendet werden, was nichts anderes heißt, als dass die Welt sozial-ökonomisch völlig neu eingerichtet werden muß. Dazu gibt uns selbst das Grundgesetz den Auftrag, das, wie Gregor Gysi erst jüngst formulierte, weder die Regierungstätigkeit der etablierten Parteien aus der alten Bundesrepublik noch den Kapitalismus schützt.

Eindringend in die Gesetze und Bedingungen des gesellschaftlichen Seins, möge es uns und unseren Mitbürgern und Freunden gelingen, dem Vermächtnis der Opfer faschistischer Herrschaft und den Forderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Indem wir ein gutes Deutschland anstreben, ehren wir die Opfer der Vergangenheit am ehesten.